"Wo des Roßbergs Haupt sich hebet" 100 Jahre Roßbergturm und schwäbische Wanderbewegung

Vortrag von Prof. Dr. Paul Ackermann 2013

"Wo des Roßbergs Haupt sich hebet", so beginnt das Gönninger Heimatlied, das von dem dortigen Ratsschreiber und Kirchenältesten Matthäus Wagner gedichtet wurde. Er war 1813 als Sohn eines Hopfenhändlers geboren worden. 100 Jahre danach feierten am 28. September fast 20000 Menschen die Einweihung des heutigen Roßbergturmes und zugleich das 25-jährige Jubiläum des Schwäbischen Albvereins. Rund 120 Jahre vorher hatte der Student der Hohenkarlsschule Stuttgart Christoph Heinrich Pfaff mit Freunden etwas für die damalige Zeit Außergewöhnliches gemacht, eine Wanderung auf den Roßberg und berichtete, dass auf dem Rossfeld Leute, die dort Holz sammelten, sich außerordentlich wunderten, als sie hörten, "dass wir sogar den Roßberg besteigen würden, blos um die Aussicht zu genießen…. Gerade so konnten hier diese guten Leute nicht begreifen, was es uns wohl für ein Vergnügen machen könne, wenn wir in der brennenden Sonnhitze Berge hinauf kletterten, um auf dem Gipfel ein Bißchen weiter zu sehen, als auf der Ebene, und in seinem eingeschränkten Gesichtspunkte hatte ein Bauer, der uns begleitete, ganz Recht, wenn er einen Berg ein wüstes Ding hieß." (Pfaff , S. 61) Am Beispiel des Roßbergs kann man beispielhaft die Entstehung der schwäbischen Wanderbewegung bzw. des Schwäbischen Albvereins aufzeigen.

Den Roßberg besteigen, "blos um die Aussicht zu genießen" nach Reisebeschreibungen von Christoph Karl Pfaff und Gustav Schwab

Der spätere Professor für Naturwissenschaften Pfaff fasste seine Erlebnisse unter dem Titel "Phantasien und botanische Bemerkungen auf einer Fußreise durch die schwäbischen Alpe. Von einem Weltbürger und Freunde der Naturwissenschaft" zusammen. Sie gehörte zu den ersten Reisebeschreibungen der schwäbischen Alb, die Ende des 18. Jahrhunderts entstanden. Das Interesse an der Schwäbischen Alb verstärkte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, was sich in verschiedenen Reisebeschreibungen niederschlug.

Besondere Aufmerksamkeit schenkte Gustav Schwab  in seinem 1823 erschienen "Wegweiser" mit dem Titel "Die Neckarseite der Schwäbischen Alb" dem Roßberg, dem er ein eigenes Kapitel widmete. Er gilt als ein "Entdecker" der Schwäbischen Alb und "Ahne des Schwäbischen Albvereins". Seine eindruckvolle Landschaftsbeschreibung beginnt er folgendermaßen: "Es ist, besonders bei den Tübingern, alt hergebrachte Sitte, von allen umliegenden Albgipfeln gerade den Roßberg zur Betrachtung des Sonnenaufgangs zu benützen und wirklich eignet sich seine freistehende Spitze, die selbst gegen Südenosten und Ost, dem Gebirge zu, eine ziemlich weite Aussicht gestattet, gegen Westen und Norden aber den Ueberblick einer unermesslich Fläche giebt, vortrefflich zu diesem Schauspiel". An seiner späteren Stelle spricht der vom "Bauernglauben", daß die Sonne, vom Roßberg aus gesehn, am Auferstehungsfeste des Herrn, drei Freudensprünge tue". Er beschreibt die verschiedenen Stufen des Roßbergs und bemängelt, dass auf dem obersten Gipfel Waldbewuchs zum Teil die Aussicht erschwere, stellt aber erfreut fest, "daß seit den neuesten Landvermessungen eine ansehnliches Gerüst mit Treppenwerk errichtet, das über alle Bäume ragt, und die große Normalaussicht aller Albgipfel (so verdient wirklich, in Beziehung auf die Fläche, der Ueberblick vom Roßberg herab, genannt zu werden) dem Auge auf Einmal gewährt."(Schwab, S. 57 ff.) Dabei handelt es sich um ein 1819 erbauten 50 bis 60 Fuß hohes Vermessungsgerüst, gewissermaßen auch den ersten Aussichtsturm auf dem Roßberg. (Haas)

Fernsicht, Panoramablick und Sehnsucht nach den Alpen

Gustav Schwab

Gustav Schwab wird auch die Erzählung zugeschrieben, wonach ein Tübinger Student beim Anblick der herrlichen Fernsicht vom Roßberg zu seinem Kameraden gesagt habe: "Bruder hau mich nieder, ich bin die Aussicht nicht wert". Die neu entdeckte Lust, die Welt von oben zu genießen, wird aus  den genannten und  weiteren Quellen deutlich. Das Wandern auf die Berge bedeutete für das aufsteigende Bürgertum im 19. Jahrundert auch in Stück Horizont- und Erfahrungserweiterung. Sowohl Pfaff als auch Schwab beschreiben ausführlich den Rundblick, den sie auf dem Roßberg genießen können. Ihnen folgen viele andere detaillierte Beschreibungen der dortigen Aussicht. Der Begriff des Panoramas, des "alles Sehens" wird von der Kunst auf das Verhältnis des Bürgers zu Natur übertragen. Der Panoramablick ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen in Mode und gilt als Instrument der Befreiung, gerade im kleinkammrigen durch viele Berge und Täler begrenzten Württemberg.
 
In vielen Berichten z.B. in den seit 1888 erscheinenden Albvereinsblättern werden auch die Alpen mit romantischer Begeisterung beschrieben, die an manchen Tagen vom Roßberg und von anderen Albbergen gesehen werden können.: "Der Anblick dieser Gletscher betrübte mich umso mehr, weil er mir ein Gut zeigte, nach dem ich mich vergebens sehnte. Nun mahlt mir meine Phantasie vollends die unübertrefflichen Alpthäler mit ihren unschuldigen Naturmenschen, unter denen wahre Tugend noch zu Hause, das Laster eine Ausnahme ist." (Pfaff, 139)

Das Panoramabild des Gönninger Jakob Gottlob Staiger

Schon an dieser Stelle sei erwähnt, dass um 1900 das Gönninger Gründungsmitglied des Schwäbischen Albvereins eine Panoramabild vom zweiten Roßbergturm aus malte, auf dem auch die Alpen zu sehen sind. Der König von Württemberg Wilhelm II. sprach dem Drechslermeister seine Anerkennung für das Werk aus und übermittelt ihm einen Geldbetrag für dessen Vervielfältigung. Das 4 m breite und 50 cm hohe Panoramabild kann im Samenhandelsmuseum, das im Gönninger Rathaus untergebracht ist, besichtigt werden.

Aussichtstürme als Symbole des "aufsteigenden" Bürgertums

Die Sehnsucht, möglichst weit und alles zu sehen, bilden auch einen wichtigen Hintergrund für die Tatsache, dass in Württemberg in der Zeit von 1850 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges in Württemberg rund 70 Aussichtstürme gebaut wurden. Aussichtspunkte wurden gesucht und mit zum Teil monumentalen Bauwerken besetzt. Dahinter steht aber auch eine Emanzipationshaltung des Bürgertums: "Das Bürgertum manifestiert seine Herrschaft im Blick von oben auf die Welt." (Schmoll 1990, S.37) Träger dieser Aktivitäten waren zunächst die Verschönerungsvereine und die verschiedenen Gemeinden, ab 1888 vor allem der Schwäbische Albverein. Die Türme sollten zunächst der Steigerung des Naturerlebnisses und der Verbesserung der touristischen Infrastruktur dienen. Erst nach 1871 nach dem Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches bekamen sie als Kaiser Wilhelm- Türme und später Bismarcktürme stärker eine politische Funktion.. In Württemberg , vor allem beim Albvereins, überwogen allerdings die naturbezogenen sowie touristischen und bürgerschaftlichen Motive.(Schmoll 1990 und 2001) Es gab nach 1900 jedoch auch Kritik von Seiten des sich bildenden stärker ökologisch orientierten "Heimatschutzes" an diesem "Turmunkraut, das heute überall auf unseren Bergen wuchert".

Gründung des Schwäbischen Albvereins (1888) und die Errichtung des hölzernen Roßbergturmes (1890)

In diesen skizzierten Zusammenhängen muss man die Gründung des Schwäbischen Albvereins und den Bau des zweiten Gönninger Roßbergturmes sehen. Im Jahre 1888 schlossen sich verschiedene Verschönerungsvereine Württembergs unter der Leitung von Georg Salzmann zum "Schwäbischen Albverein" zusammen. Ein Anlass für die Gründung war unter anderem die Finanzierung des Teckturmes, die nur von mehreren Vereinen geleistet werden konnte. In anderen Ländern hatten sich bereits Mittelgebirgsvereine gebildet. Auf weitere Einzelheiten der Vereinsgründung kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. In Gönningen schlossen sich schon ein Jahr  danach verschiedene Bürger zu einer Ortsgruppe zunächst noch unter dem Namen Verschönerungsverein zusammen und danach dem neu gegründeten Schwäbischen Albverein an.

In den Blättern des Schwäbischen Albvereins wurde schon 1889 darauf hingewiesen, dass der Roßberg eines Aussichtsturmes würdig sei, was auch von der Gönninger Ortsgruppe und der Bevölkerung unterstützt wurde. Der Gönninger Gemeinderat beschloss daher am 19. Februar 1890 die Erstellung eines Turmes und stellte das entsprechende Holz zur Verfügung. Dazu kam ein Zuschuss des Albvereins von 500 Mark und Spenden von Privatpersonen.

Der erste Roßbergturm

Der Turm war 25 m hoch, auf seiner Plattform hatten 20 Personen Platz. Bei der Einweihungsfeier am 8.Juni 1890, an der rund 2000 Menschen teilnahmen würdigte der stellvertretende Vorstand des Albvereins Eugen Nägele den "stattlichen Bau" auf dem "altheiligen Berg". Das Foto des neuen Turmes war übrigens das erste Nichtpersonenfoto, das in den Blättern des Schwäbischen Albvereins veröffentlich wurde.

Quenstedt-Denkmal auf dem Roßberg 1893

Eine zusätzliche Aufwertung bekam der Roßberg dadurch, dass dort 1893 ein Denkmal für Friedrich August Quenstedt errichtet wurde. Er war von 1837 bis 1899 Professor für Geologie an der Universität Tübingen und gilt als Begründer dieses Faches in Württemberg. Sein Forschungsschwerpunkt waren die Juraformationen der Schwäbischen Alb. Vor ihm stammt der heute noch verwendete Begriff der Stufenlandschaft. Nicht zuletzt hat er durch seine volkstümliche Art bei vielen Albbewohnern das Interesse an Ammoniten und anderen Versteinerungen geweckt. Die Einweihung des Denkmals, das vom Albverein, der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen und Privatleuten gestiftet wurde, war ein großes Ereignis für den Albverein und Gönningen.

1913: Jubiläumsturm des Albvereins auf dem Roßberg –"ein Denkmal schwäbischer Freude an der Natur und schwäbischen Gemeinsinns"

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Wanderbewegung einen großen Aufschwung genommen. 1913 konnte der Schwäbische Albverein, der inzwischen 78335 Mitglieder hatte, sein 25-jähriges Jubiläum feiern. Schon 1910 war ein Jubiläumsausschuss gebildet worden, der den Bau eines Jubiläumsturmes  auf dem Roßberg vorbereiten sollte.

Im Februar 1912 stimmte der Gönninger Gemeinderat und Bürgerausschuss dem Projekt grundsätzlich zu. Er stellte dem Albverein auf dem Gipfel 29 ar Baugrund im Erbaurecht zu Verfügung. Zur Anlage einer Wasserleitung bekam der Albverein zudem eine Quelle beim kleinen Roßberg. Die Gemeinde Gönningen verpflichtete sich auch, den Weg auf dem Rossfeld auszubauen.

Der Schwäbische Albverein hatte bereits einen Architektenwettbewerb ausgeschrieben, dessen Ergebnis in den Albvereinsblättern folgendermaßen kommentiert wurde. "Es waren alle möglichen und auch einige unmögliche Gedanken vertreten. Auf häufigsten wurde an den Eiffelturm und den Fischerschen Schönbergturm oberhalb Pfullingens erinnert, der teils verbessert, teils geradezu wiederholt und auch schlecht kopiert erschien. (…) Im Übrigen wechselte die Form zwischen Kirchturm, Leuchtturm und Festungsturm, Taubenhaus, Fesselballon, Fernrohr, Kuppelbau, Flasche usf." Ausgewählt wurde schließlich der Entwurf "Steinpilz" der Stuttgarter Architekten Schweizer und Keppler, der ein Betonmauerwerk mit 30 m Höhe vorsah, ausgewählt. Wichtig in diesem Zusammenhang war, dass an den Turm angebaute "Unterkunftshaus", das sowohl die Möglichkeit zu Einkehr als auch zu Übernachtung bot. Zur Finanzierung des großen Bauvorhabens trugen eine Stiftung des Stuttgarters Otto Staab, ein großer Beitrag der Ortgruppe Stuttgart und des Hauptvereins selbst bei.

Richtfest 1913

Bei der Einweihung am 28. September 1913, an der fast 20 000 Menschen teilnahmen, wurden 12 Reden gehalten und 2 Gedichte vorgetragen. Gönningens Bürgermeister Ernst Felger betonte die Fürsorge für den Roßbergturm sei für Gönningen eine "moralische Verpflichtung". Festredner wie Prof. Nägele aus Tübingen bezeichnete den Bau "nach Form und Inhalt gewaltigen Markstein, ein Höhepunkt des Vereins für die Landesausstattung mit wohnlichen Gebirgsbauten" und Geheimrat von Payer nannte ihn ein "Denkmal schwäbischer Freude an der Natur und schwäbischen Gemeinsinns" (Blätter 1913, S. 385).

Entwicklung in den letzten 100 Jahren

Der Roßbergturm blieb in den letzten 100 Jahren nicht unberührt vom politischen Geschehen. Im Mai 1913 war in den Bauvertrag eine Kriegsklausel aufgenommen worden, wonach bei Ausbruch eines Krieges, an dem Deutschland beteiligt sei, die Arbeiten eingestellt werden mussten oder konnten. Im "Dritten Reich war der Roßberg zum Teil auch Anlaufstelle für die Aktivitäten nationalsozialistischer Freizeitorganisationen. Während des zweiten Weltkrieges wurde der Turm mit einem Tarnanstrich versehen und für den Flugfernmeldedienst genutzt. Von den baulichen Veränderungen sind besonders der Anbau der "Stuttgarter Stube" für rund 100 Gäste im Jahre 1972/73 und der Bau einer Wasserleitung 1971 und eines Abwasserkanals 1998 zu erwähnen.

Roßbergturm, heute beliebtes Ausflugsziel und Kulturdenkmal

Durch ständige bauliche Renovierungen und Verbesserungen, auf die wir hier nicht weiter eingehen können, hat der Turm in den letzten 100 Jahren sein Attraktivität als Treffpunkt des Albvereins und allgemeines Ausflugsziel behalten. Obwohl dessen Form zunächst durchaus umstritten war, ist heute aus "architektur- und heimatgeschichtlichen" Gründen in die Liste der Kulturdenkmale aufgenommen und "zählt zu den seltenen Beispielen der frühen Moderne vor dem ersten Weltkrieg."

Literaturhinweise

Blätter des Schwäbischen Albvereins, 1889 ff.
Haas, Walter: Der Roßberg und seine Türme, in: Die Gönninger "Ein Völklein frisch-belebt" hrg. v. d.Stadt Reutlingen, Reutlingen 1992.
Pfaff, Christoph Heinrich: Phantasien und botanische Bemerkungen auf einer Fußreise durch einen Theil der schwäbischen Alpe, im April 1794. Oehringen 1798
Schraitle, Egon: Die Gründung und Anfänge des Schwäbischen Albvereins. Schwäbischer Albverein Stuttgart (Hrsg. und Verlag) 1975.
Schmoll, Friedemann: Der Aussichtsturm. Zur visuellen Eroberung und nationalen Besetzung der Natur. Ein Beitrag zur Denkmaltopographie am Beispiel Württembergs. (Mssch) Magisterarbeit Universität Tübingen 1990
Schmoll, Friedemann: Der Aussichtsturm. Zur Ritualisierung touristischen Sehens im 19.Jahrhundert.In: Köck, Christoph: Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung. Münchner Beiträge zur Volkskunde Bd. 29. Münster; New York; Berlin 2001
Schraitle, Egon: Die Gründung und Anfänge des Schwäbischen Albvereins. Schwäbischer Albverein Stuttgart (Hrsg. und Verlag) 1975
Schwab, Gustav: Die Neckarseite der Schwäbischen Alb. Neudruck der ersten Ausgabe von 1823 mit einer Einführung von Hans Widmann. Tübingen 1960
Stadtarchiv Reutlingen (Gemeindearchiv Gönningen)